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Sinn und Unsinn von Überlebenstraining

Ich habe mich eigentlich immer schon für Überlebenstraining interessiert und dazu im Laufe der Jahre nicht nur einige Seminare (dienstlich und privat) besucht, sondern natürlich auch entsprechende Bücher gelesen. Die Inhalte all dieser "Schulen" ähneln sich meist sehr und ich habe mich deshalb entschlossen, zusammenzufassen, auf welche Kenntnisse und Ausrüstungsgegenstände man letztlich alles zurückführen kann und zu analysieren, ob dies sinnvoll ist.

Im Prinzip gibt es auf Basis all dieser Quellen nur 8 Grundbedürfnisse, auf denen alles Weitere beruht:
  1. Trinken
  2. Wärmeerhalt (d.h. Schutz vor Kälte, Nässe, Wind)
  3. Orientierung (d.h. Finden eines Zieles)
  4. Essen
  5. Erste Hilfe (d.h. Schutz vor/bei Verletzung/Krankheit)
  6. Schutz vor Tieren und Menschen
  7. Gefunden werden (d.h. Rettung durch andere aus Notlagen) 
  8. Schutz vor Sonne/Hitze

Die Priorität dieser Grundbedürfnisse variiert je nach Einzelfall. Jemand, der beispielsweise im Winter eine Nacht draußen verbringen muß, benötigt in erster Linie Schutz gegen Kälte und Nässe, um nicht zu erfrieren. Jemand, der im Sommer bei starker Belastung über mehrere Tage hinweg eine bestimmte Strecke zurücklegen muß, um Hilfe zu bekommen, benötigt hingegen in erster Linie Wasser und Schutz vor Sonne/Hitze.

Natürlich gibt es Sonderformen des Überlebenstrainings wie z.B. das Überleben "See", das ich hier nicht erfaßt habe. Ebenso nicht erfaßt habe ich das langfristige Leben ohne Zivilisation (d.h. das, was sogenannte Prepper teilweise vorbereiten inklusive dem Anbau von Nahrungsmitteln oder Gewinnung von Rohstoffen) oder unter Extrembedingungen (z.B. militärischer oder humanitärer Einsatz in einem Kriegsgebiet). Ich gehe vielmehr von einem "Normalbürger/-reisenden" aus.


Debris Hut


Aus diesen Grundbedürfnissen kann man folgende notwendige Kenntnisse ableiten:
  1. Trinken > Wasser finden > Wasser filtern bzw. Wasser kochen > Feuer machen
  2. Wärmeerhalt > Shelterbau und/oder Feuer machen
  3. Orientierung > Himmelsrichtung bestimmen und/oder Umgang mit Karte/Kompass/GPS und/oder Orientierungstricks (Schrittlänge als Distanzmessung etc.)
  4. Essen > essbare Pflanzen erkennen, finden, zubereiten sowie essbare Tiere/Insekten/Fische kennen, fangen, zubereiten
  5. Erste Hilfe > Krankheiten und Verletzungen vorbeugen und versorgen
  6. Schutz vor Tieren und Menschen > Verhalten von gefährlichen Tieren und feindlichen Menschen kennen sowie Kampf (improvisierte Waffen sowie unbewaffneter Nahkampf) und Tarnung/Flucht
  7. Gefunden werden > verschiedene Alarmierungsformen kennen > u.a. Feuer machen
  8. Schutz vor Sonne/Hitze > Shelterbau und improvisierter Sonnenschutz (geht über in Erste Hilfe in Form von Vorbeugung von Hitzeschäden)

Verdichtet man diese Fähigkeiten noch weiter, bleiben folgende Grundfertigkeiten in der Reihenfolge ihrer Bedeutung:
  • Feuer machen (taucht mit Abstand am häufigsten auf)
  • Wasser finden und nutzbar machen (als das elementarste Grundbedürfnis)
  • Shelterbau
  • Orientieren
  • Kenntnisse von Verletzungen und Krankheiten
  • Jagen und Zubereiten von tierischer Nahrung
  • Sammeln von pflanzlicher Nahrung
  • Erste Hilfe
  • Selbstverteidigung

Man kann diesen Grundfertigkeiten folgende Ausrüstungsgegenstände zuordnen, die man redundant besitzen, beherrschen und mitführen muss:
  • Gerät zur Feuererzeugung (im Wesentlichen Feuerstahl, Feuerzeug, Streichhölzer) und Zubehör (Zunder)
  • Messer
  • Wasserfilter und/oder Entkeimungstabletten
  • Draht/Schnur (zur Verbindung von Lagerbauelementen)
  • Gerät zur Orientierung (im Wesentlichen Karte, Kompaß, GPS)
  • Erste Hilfe-Set (Medikamente, Material zur Blutstillung)


Weitgehend sinnlos: Schlingen legen


Die Frage, die nach dieser Bestandsaufnahme nicht beantwortet ist, ist, wie sinnvoll diese Fähigkeiten und diese Ausrüstungsgegenstände sind. Anders ausgedrückt:
  1. Was kann einem unter realistischen Bedingungen passieren, wobei die eingangs genannten Grundbedürfnisse entstehen?
  2. Kann man diese mit den genannten Fähigkeiten und/oder Ausrüstungsgegenständen befriedigen?

Ich will dies nachfolgend im Einzelnen analysieren.

Kann es eine Notsituation geben, in der man dringend Trinkwasser benötigt?
Ja. Man kann auf einer Fernreise (auch abseits heißer Gebiete) beispielsweise durch eine Naturkatastrophe (wie die Trekkingreisenden in Nepal 2015 nach dem Erdbeben) oder durch simples Verirren (z.B. bei einer Fahrt durch Namibia) ohne Weiteres in eine Situation kommen, wo man über Tage oder gar Wochen Trinkwasser braucht. In Mitteleuropa ist dies eher unwahrscheinlich, weil Zivilisation und Hilfe selten so weit entfernt sind, dass man ohne Weiteres den Zugang dazu verliert. Aber auch das ist in extremen Gebieten (z.B. Nordskandinavien) oder unter extremen Bedingungen (Verirren in einem extrem heißen Sommer) denkbar.
Kann man dieses Bedürfnis durch Kenntnisse/Ausrüstung befriedigen?
Zunächst einmal ist eine improvisierte Filterung nicht in der Lage, die sich aus verunreinigtem Wasser ergebende Gefahren wirkungsvoll zu beseitigen (auch wenn dies in Trainings, im Internet und in Bücher meistens anders suggeriert wird). Dieses Wissen ist also nutzlos. Anders ist das mit der Frage, wo man Wasser findet und wie man es mit technischen/chemischen Hilfsmitteln filtert.
Auf Fernreisen und unter extremen Reisebedingungen in Mitteleuropa sind deshalb auch nur diese Kenntnisse sowie Ausrüstung zur Filterung notwendig. Um Wassermangel zu verhindern sollte man zusätzlich auf eine sorgfältige Reiseplanung und Navigation, das Mitführen von ausreichendem Wasservorrat und Bargeld, um dies nach Möglichkeit als "Höchstbietender" nachkaufen zu können, setzen.

Kann es eine Notsituation geben, wo man dringend Wärmeerhalt sicherstellen muß (Shelterbau und/oder Feuer machen)?
Ja. Wenige Stunden Unterkühlung wegen Kälte/ Wind/ Nässe genügen unter schlechten Bedingungen, um zu versterben. Dazu muß man keine Fernreise unternehmen, es genügt eine Winternacht im Wald (z.B. nach Verletzung und/oder Verirren) oder im Gebirge.
Kann man dieses Bedürfnis durch Kenntnisse/Ausrüstung befriedigen?
Außer Bekleidung und benachbarten Bereichen (z.B. Notbiwaksack, Schlafsack) sind der Bau eines Notshelters (inbesondere, wenn man kein Feuer machen kann) und das Feuermachen Maßnahmen, für die man spezielle Kenntnisse benötigt. Allerdings ist das Feuermachen in einer Notsituation (wo es oft darum geht, ein schnelles Feuer zu bekommen oder dies unter sehr widrigen Umständen zu entzünden) nicht ohne Ausrüstung möglich - sei es ein Feuerstahl, ein Feuerzeug oder Streichhölzer (am besten führt man mehrere dieser Hilfsmittel mit für den Fall, dass eines ausfällt). Aber selbst mit dieser Ausrüstung will das Feuermachen und Unterhalten gelernt sein.

Kann es eine Notsituation geben, wo man sich orientieren muß (Himmelsrichtung bestimmen und/oder Umgang mit Karte/Kompass/GPS und/oder mittels Orientierungstricks)?
Ja. Die Fähigkeit, sich mit den genannten Hilfsmitteln zu orientieren, ist elementar und auch einige improvisierte Kenntnisse (z.B. Himmelsrichtung bestimmen, Strecke bestimmen können, die man zurücklegt) tragen dazu bei, erst gar nicht in eine Notsituation zu kommen. Auch hier muß man mit den Ausrüstungsgegenständen Karte/ Kompaß und GPS umgehen können (und führt am besten mehrere dieser Ausrüstungsgegenstände mit, falls eines ausfällt).

Kann es eine Situation geben, wo man sich improvisiert Nahrung beschaffen muß (essbare Pflanzen erkennen, finden und zubereiten sowie essbare Tiere/Insekten/Fische kennen, fangen und zubereiten)?
Eine solche Situation ist kaum denkbar, denn Nahrungsbeschaffung ist erst nach einigen Tagen wirklich eine überlebenswichtige Frage. Unter extrem schlechten Bedingungen einer schief gelaufenen Fernreise mag das anders sein, stellt aber auch dann nicht die erste Priorität dar (wie Trinkwasser, Schutz vor Kälte/ Hitze bzw. Tieren/ Menschen). Und selbst wenn Nahrungsbeschaffung zum zentralen Problem werden sollte und man nichts kaufen kann, sondern selbst beschaffen muß, ist der weit überwiegende Teil der vermittelten Fähigkeiten nutzlos. Da werden Pflanzen gelernt, deren Nährwert minimal ist und die andernorts (also dort, wo die potenzielle Gefahr am größten ist) häufig nicht vorkommen oder es werden Fallen für den Fang von als Nahrung ungeeignetem Raubwild konstruiert. Und selbst eine einfache Schlingenfalle für ein Kaninchen ist nicht frei von Risiken (Wildkrankheiten). Für die Situation einer Notlage, in der man Nahrung braucht, ist das Mitführen von Bargeld, Verpflegung (z.B. gefriergetrocknete Trekkinggerichte) und einer "Eisernen Reserve" Notnahrung (z.B. Seven Oceans, BP-5 oder NRG-5) faktisch das einzig vernünftige.

Kann es eine Notsituation geben, in der man Kenntnisse in Erster Hilfe benötigt (Krankheiten und Verletzungen vorbeugen und versorgen)?
Ja, diese Situation kann bereits im ganz normalen Straßenverkehr eintreten und entsprechende Fähigkeiten sind auch ohne Ausrüstung zur Verhinderung von Gefahren und deren Bewältigung unabdingbar. Natürlich verbessert einfache Ausrüstung nahezu immer die Situation - insbesondere in schweren Fällen (z.B. Amputationswunde nach Verkehrsunfall, Schußverletzung bei Jagdreise).

Kann es eine Notsituation  geben, in der man Schutz vor Tieren und Menschen  benötigt (Verhalten von gefährlichen Tieren und feindlichen Menschen kennen sowie damit umgehen können)?
Ja, denn bereits in deutschen Großstädten ist es inzwischen mitunter nötig, ausweichen, deeskalieren und sich notfalls verteidigen zu können. Um so mehr gilt das in den abgelegenen Gebieten von Fernreisen. Reisende, die "abseits der Wege" unterwegs sind, setzen sich auch der Gefahr durch Tiere (z.B. Schlangen. Skorpione, Bären, verwilderte Hunde) aus. Man benötigt, um damit umgehen zu können weniger Ausrüstung (z.B. Bärenspray oder gar eine Schußwaffe, sofern die legal mitzuführen ist), sondern vielmehr Kenntnisse zur Vermeidung und Reduzierung solcher Gefahren und letztlich auch was Menschen angeht die Fähigkeit zur Täuschung und Geheimhaltung (z.B. um nicht wohlhabend oder als "leichtes Opfer" zu erscheinen) und letztlich zur wirkungsvollen Selbstverteidigung.

Kann es eine Situation geben, in der man unter widrigen Bedingungen gefunden werden will (also Alarmierungsformen kennen muß)?
Ja, eine solche Situation kann bereits bei einer Bergtour eintreten, auf der man verunfallt und/oder verirrt ist. Man benötigt sowohl Ausrüstung (Kommunikationsmittel, Signalgeber  wie die von Comet oder wenigstens etwas, um ein Feuer zu entfachen), als auch Kenntnisse (wie bedient man diese Ausrüstung).

Kann es eine Notsituation geben, in der man Schutz vor Sonne und Hitze benötigt (also Kenntnisse im  Shelterbau und für improvisierten Sonnenschutz benötigt)?
Ja, dazu ist nicht einmal eine echte Notlage nötig, sondern bereits während körperlicher Anstrengung in einem heißen Sommer in Deutschland und erst Recht auf einer Fernreise (im Extremfall eine Fahrt durch Namibia während der heißesten Jahreszeit) benötigt man Trinkwasser, Sonnenschutz und Kenntnisse über die Gefahren, die sich aus Hitze/Sonnenstrahlung ergeben.


Transportables Feuer mit kleiner, improvisierter Fackel


Was bleibt also nach dieser Analyse von notwendigen Kenntnissen und Ausrüstungsgegenständen übrig?
Es bleibt lange nicht so viel übrig, wie Survivalbücher, Kurse und Youtubevideos suggerieren, sondern:
  • Man sollte mit Gerät zur Feuererzeugung (Feuerstahl, Feuerzeug, Streichhölzer) umgehen und ein Feuer entfachen und unterhalten können.
  • Man sollte in der Lage sein, Wasser zu finden und mit Ausrüstung (Wasserfilter) trinkbar zu machen.
  • Man sollte in der Lage sein, einen einfachen Shelter (Wärmeerhalt oder Schutz vor Sonne) zu bauen und führt bestenfalls, aber nicht notwendigerweise Ausrüstung dafür mit (z.B. Messer, Schnur oder Draht, Rettungsdecke).
  • Man sollte in der Lage sein, sich mit Ausrüstung (Karte, Kompaß, GPS) zu orientieren und diese Ausrüstung auch mitführen und darüber hinaus auch einige Notfallkenntnisse haben (Himmelsrichtung, Schrittlänge etc.).
  • Man sollte fundierte Kenntnisse in Erster Hilfe haben (Erkrankungen und Verletzungen) und entsprechende Ausrüstung auch mitführen und damit umgehen können.
  • Man sollte Gefahren des Zielortes, die von Menschen und Tieren ausgehen kennen und damit auch auf unterschiedliche Weise umgehen können (Vermeiden, Ausweichen, Deeskalieren und in letzter Konsequenz sich verteidigen).

Die beschriebene Ausrüstung sollte man redundant mitführen, also mindestens zwei Möglichkeiten zur Orientierung, zum Feuermachen etc.

Einige Kenntnisse und Ausrüstungsgegenstände habe ich in diesem kleinen Überblick als weitgehend nutzlos für den Normalreisenden bewertet. Dazu zählen so "romantische" Techniken wie Fallenbau, Kräuterkunde, Feuerbohren, (Löffel)Schnitzen und Tierverwertung etc. sowie Gegenstände wie z.B. Rigger Belts, Äxte, Pfeil und Bogen oder auch die vielen Kochsets.
Warum erfreuen sich all diese Dinge dennoch so großer Beliebtheit auf Kursen? Ganz einfach: Den einen macht es Spaß, sich damit zu beschäftigen (mir auch) und die anderen verdienen damit gutes Geld und benötigen weniger Qualifikationen als für eine fundierte Erste Hilfe- und Navigationsausbildung nötig sind (und solche Kurse sollte man als "Schüler" auch nur bei renommierten Lehrern machen und aus Büchern oder Videos alleine lernt man es nicht).
An einer solchen Freizeitbeschäftigung sehe ich auch nichts Schlechtes - so lange man sich die elementaren Kenntnisse auch erarbeitet und entsprechende Ausrüstung mitführt.

In kaum einem Survivalkurs oder -ratgeber wird zudem darauf verwiesen, dass eine sehr gute körperliche Fitness (mit der eine größere psychische und physische Belastbarkeit einhergeht), die Behebung von gesundheitlichen Problemen (z.B. Zahn- oder Impfstatus) sowie möglichst gute Kenntnisse des Zielgebietes (sofern man reist) noch elementarer sind, als Survivalfähigkeiten. Sich in einen exzellenten körperlichen Zustand zu versetzen, benötigt aber mehr Zeit und ist erheblich mühsamer, als Videos anzusehen oder einen Wochenendkurs zu machen.

Und über die "klassische" Survivalausrüstung hinaus sind Kreditkarte, Bargeld in Landeswährung sowie US-Dollar oder Euro, Kommunikationsmittel (Mobiltelefone und ggf. Mittel zur Satellitenkommunikation wie z.B. das Garmin in-Reach Mini) sowie Verträge mit Dienstleistern (Auslandsreisekrankenversicherung, Rückholdienste) ganz wesentliche Hilfsmittel, Reisen auch unter schwierigen Bedingungen unbeschadet zu überstehen.