Essbare Wildpflanzen in Notsituationen

Es gibt haufenweise Bücher über essbare Wildpflanzen oder Kräuter für die Küche und gegen Krankheiten. Einige davon habe ich gekauft. Meist gehen diese Veröffentlichungen an dem Ziel vorbei, was ich habe: ein einfach zu verstehender und zu erinnernder Überblick über die wichtigsten Nahrungsquellen aus der Natur.
Was verstehe ich unter wichtig?
  • Erstens sollen diese Pflanzen häufig vorkommen (also eine größere Menge Nahrung bieten).
  • Zweitens sollen sie leicht zu identifizieren sein (und keine gefährlichen "Doppelgänger" haben).
  • Drittens sollen sie über einen längeren Zeitraum im Jahr vorkommen und nicht bloß wenige Wochen.
Leicht zu identifizierende und bekannte Früchte oder Pflanzenteile wie z.B. Himbeeren, Brombeeren, Kirschen, Äpfel, Hasel- und Walnüsse sowie Bucheckern sind nicht Gegenstand dieses Beitrages.

Ebenso habe ich mich hier nicht um Pflanzen gekümmert, die in erster Linie wegen ihrer heilsamen Wirkung oder ihres hohen Nahrungswertes (z.B. durch besonderen Reichtum an Vitaminen oder Mineralstoffen) wichtig sind. In diesem Text geht es in erster Linie darum das (Ver)Hungern in einer Notsituation zu verhindern.


Zu wenig zum Überleben?

Es gibt Survival-Experten, die die Beschäftigung mit Wildpflanzen deshalb für falsch halten, weil man allein damit nicht überleben könne. Man verbrauche mit der Suche und Gewinnung im Gegenteil sogar Energie.
So einfach ist es meiner Meinung nach nicht:
  • Man kann in der Tat nicht nur von Wildpflanzen leben. Aber alleine von wild wachsenden Pflanzen zu leben, schlage ich auch nicht vor.
  • Wildpflanzen sind in einer Notsituation u.a. Nährstofflieferanten, Nahrungsergänzung und Sattmacher. Nach Möglichkeit nutzt man sie zusätzlich zu anderen Nahrungsquellen (z.B. Jagd und Nutzung von kalorienreicheren Kulturpflanzen). Schlimmstenfalls hat man ausser Wildpflanzen vielleicht aber nur die eigenen Körperreserven und tierische Notnahrung. 
  • Alle hier genannten Pflanzen sind so häufig, dass ich mindestens sechs Monate im Jahr z.B. schon auf meiner üblichen Marschstrecke mühelos riesige Mengen davon sehe. Eine regelrechte Suche ist gar nicht nötig. Diese Pflanzen finden sich mühelos im Umfeld eines Lagers oder entlang eines Weges, den man ohnehin zurücklegt. Nichts spricht dagegen, z.B. beim Abgehen von Fallen, Wildpflanzen entlang des Weges mitzunehmen.

Einige Pflanzen sind gekocht besser verzehrbar. In diesen Fällen kann man sich auch ohne Topf behelfen, wenn man irgendwo Wasser aufheben kann (z.B. in einer Mulde in lehmigem Boden, einem improvisierten Gefäß aus Rinde oder in einem Baumstumpf oder einer unbeschichteten Stoffzeltbahn) und dann ein Feuer entzündet, in dem man Steine erhitzt (man bezeichnet sie als "Kochsteine"*).
Man muss dabei vorsichtig sein, da manche Steine durch Hitze splittern. Die heißen Steine kann man dann vorsichtig (z.B. mit einer improvisierten Zange oder großen Gabel aus Ästen) aus dem Feuer nehmen und in den improvisierten "Kessel" legen. Das Wasser wird sich dadurch in Abhängigkeit von Wassermenge, Steintemperatur etc. stark erhitzen.
Die Erhitzungszeiten liegen bei den meisten hier genannten Pflanzen bei rund 10 bis 15 Minuten.


Wichtige Pflanzen

Brennnesseln gelten als vergessene, aber "alte Gemüsepflanzen" und liegen wenigstens von Juni bis Oktober vor. Aber auch jetzt, Ende November, gibt es noch genug essbare Brennnesseln.
Sie bieten Fette, Kohlenhydrate, Magnesium, Eisen und Silizium.
Man kann die Blätter wie Spinat zubereiten und 3 Sekunden blanchieren. In einem "Kriegskochbuch" von 1916** heisst es: "Brenesselgemüse. Die jungen kleinen Brennesseln werden in leichtem Salzwasser mit einer Prise Zucker gekocht und dann wie Spinat zubereitet."
Man kann die Blätter trocknen und in dieser Form als Mineralstofflieferant für den Winter aufheben.
Aus frischen, aber auch getrockneten Brennnesseln kann man auch Tee zubereiten.
Das Pflücken mag sich wegen der Brennhaare etwas schwieriger gestalten, als das anderer Pflanzen, aber hier helfen Handschuhe oder ein Jackenärmel, mit dem man die Hand schützt.


Brenesseln Ende November

Hagebutten sind reich an Vitamin C und A und sehr leicht findbar. Man kann die im Herbst zu findende rote Frucht essen, nicht jedoch die Kerne im Inneren, die einen Juckreiz auslösen können. Diese müssen sorgfältig entfernt werden. Getrocknet können die Früchte für Tee mit heißem Wasser übergossen werden.




Leicht zu finden und sehr häufig ist auch der Löwenzahn, der im Frühjahr gelbe Blüten ausprägt und dann die bei Kindern beliebten "Pusteblumen". Ich habe beides aber auch schon Ende November (siehe Bilder) gesehen.
Löwenzahn ist sehr vitaminreich (besonders Vitamine C und D) und enthält viel Kalium.
Wurzeln und Blätter lassen sich besonders gut essen. Dabei wässert und dünstet man die Wurzeln (die man sogar im Winter noch "ernten" kann) und wässert die Blätter (für einen Salat).
In dem genannten Kriegskochbuch von 1916 heißt es zum Stichwort "Löwenzahnsalat": "Ist der Löwenzahn zart und fein, so behandelt man ihn wie Feldsalat. Ist er größer, so legt man ihn gebündelt in frisch aufgeworfene Erde oder in angefeuchteten Sand in den Keller, was in etwa 3 bis 6 Tagen der Fall ist. Dann schneidet man ihn klein und richtet ihn gut gewaschen mit Öl, Essig, etwas Salz und Pfeffer an."


Die Form der Blätter erinnerte die Menschen früher an ein Löwengebiss (Foto Ende November)


Leicht von weitem erkennbar: "Pusteblume" Ende November


Genau so sichtbar: Gelbe Blüten (Foto Ende November)


Roter Wiesenklee wächst auf Wiesen und Weiden bis ins Gebirge (bis zu einer Höhe von 2.000 Metern). Er ist Mineralstoff- und Vitaminreich (Betakarotin) und ein Eiweißlieferant. Am besten findet man ihn von April bis Oktober.
Essbar sind die jungen Triebe, die Blätter und Blüten (kann man vor dem Verzehr kurz dünsten). Die Blüten schmecken leicht süßlich.


Roter Wiesenklee am Ersten Advent


Gänseblümchen sind essbar und schmecken am besten im April und Mai. Später bleiben sie zwar essbar, werden aber bitterer. Sie werden u.a. in der Gastronomie gerne als dekorativer Salatbestandteil verwendet.




Giersch (auch "Geissfuss" wegen der Blattform genannt) war schon den Römern als Gemüsepflanze bekannt (und würde regelrecht angebaut), ist in ganz Europa verbreitet, blüht im Juni/Juli und wächst großflächig und auch an schattigen Plätzen. Er ist reich an Vitamin C, Betakarotin, Eiweiß, Eisen und anderen Mineralstoffen. Die Blätter können roh und gekocht gegessen werden. Auch die Blüten sind gut essbar. Der Giersch kann allerdings mit den giftigen Pflanzen Gefleckter Schierling und Breitblättriger Merk verwechselt werden. Wichtiger Unterschied ist der dreikantige Stiel der Blätter beim Giersch.
Schliesslich ist zu bemerken, dass Giersch, ähnlich der Eicheln, wegen seiner Verbreitung (und Nährstoffe) während der Weltkriege für viele Menschen eine wertvolle Nahrungsergänzung darstellte.
Vom Giersch werde ich kein Bild einstellen, da man ihn wie gesagt bei oberflächlicher Betrachtung mit einigen Giftpflanzen verwechseln kann. Man sollte ihn deswegen sorgfältig nachschlagen und bei der Bestimmung generell niemals nach den Blüten, sondern nach Blättern und Stengel unterscheiden.

Spitzwegerich und Breitwegerich sind wie alle europäischen Wegeriche roh und gekocht essbar (die "Köpfchen" mit den Samen, und die Blätter. Sie sind reich an den Vitaminen B und C sowie Kalium und Zink. Am besten lassen sie sich von April bis Oktober ernten.


Breitwegerich Ende November



Wichtige Früchte von Bäumen

Hier weiche ich von meiner eigenen Regel ab, dass die Früchte, die mich in diesem kleinen Beitrag interessieren, über einen längeren Zeitraum zur Verfügung stehen sollten, weil die im Folgenden genannten Baumfrüchte entweder sehr leicht zu erkennen sind und/oder in großen Mengen vorliegen und deshalb eine ausgezeichnete Nahrungsquelle darstellen.
Außer den von mir beschriebenen Zubereitungsarten, die auf Notsituationen ausgelegt sind, in denen man höchstens über Wasser und Feuer verfügt, gibt es vielerlei andere Möglichkeiten bis hin zum Kaffeeersatz oder Brot aus Eicheln, die zuletzt im Zweiten Weltkrieg massenhaft verwendet worden sind.

Buchen
Außer Bucheckern kann man Ende April/Anfang Mai die jungen grünen Buchenblätter essen. Ab April gibt es zudem im Boden zarte Buchenkeimlinge, die ebenfalls essbar sind.

Eichen
Eicheln liegen in großen Mengen zwischen Ende September und Mitte Oktober vor.
Man sollte sie zunächst 8 bis 10 Minuten leicht rösten. Dann lassen sich die durch das Rösten aufgesprungenen Schalen gut entfernen. Nun kann man sie ein bis zwei Tage in klares kaltes Wasser legen, damit sie ihren bitteren Geschmack verlieren. Das Wasser sollte man dabei wenigstens einmal wechseln.
Anschließend kann man sie zu Mehr zerstoßen und anderen Speisen beimischen oder kochen und dann wie Esskastanien essen.

Fichten
Die jungen Fichtenspitzen etwa ab Mai sind essbar und enthalten viel Vitamin C. Man kann sie andünsten oder kurz aufkochen, um sie bekömmlicher zu machen.


Tierische Notnahrung

Zunächst kommen als tierische Notnahrung neben dem eigentlichen Wild kleine Tiere (z.B. Kaninchen, Eichhörnchen) oder Fische in Betracht, die man entweder mit primitiven Behelfswaffen (z.B. Fischspeer, Wurfkeule) erlegen kann.
Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, Fallen zu stellen, die ich in einem eigenen Beitrag behandeln werde. Ohne Notlage ist dies natürlich verboten.
Als sozusagen letzte Möglichkeit würde ich in Betracht ziehen, Regenwürmer und Ameisen zu wässern und sie auf einem heißen Stein am Feuer zu rösten.
Ich weiß, dass der Wald und das Feld viele weitere Nährstofflieferanten wie Borkenkäfer oder Grashüpfer bieten. Aber mein persönliches Empfinden von Ekel steht deren Verwendung ebenso entgegen, wie der von totgefahrenen oder erlegten Katzen oder Hunden.


Verseuchung und Vergiftung

Insbesondere bei roh gegessenen Pflanzen bestehen auch dann Gefahren, wenn die Pflanze an sich unschädlich ist. Pflanzen können durch Pflanzenschutzmittel oder andere Gifte verseucht sein oder vom Fuchsbandwurm, einem für den den Menschen lebensgefährlichen Parasiten, der sich u.a. durch Fuchskot überträgt, befallen sein. Dieses Risiko weisen alle bodennahen Pflanzen auf, auch wenn die Mehrzahl der Deutschlandweit rund 50 Fälle aus dem Süden der Bundesrepublik stammen und vermutlich mehrheitlich auf befallene Hunde zurückzuführen sind.
Bereits sorgfältiges Waschen der Pflanzen senkt das Risiko und ein zehnminütiges Kochen bei 60 Grad tötet den Fuchsbandwurm ab (dazu hier ein Text der Universität Würzburg). Einer der Gründe für die Ausbreitung des Fuchsbandwurms seit den 80er Jahren ist übrigens vermutlich der Rückgang der Fuchsbejagung (u.a. in Folge des Werteverfalls von Fuchspelz).

Es ist natürlich auch möglich, sich durch Pflanzen selbst zu vergiften. Deshalb bin ich in diesem Beitrag bei sicher identifizierbaren und weit verbreiteten Beispielen geblieben. Die meisten dieser Pflanzen kommen in ganz Europa vor, einige auch in Asien oder Nordamerika.  Dadurch sollte nichts schiefgehen.
Kommt man hingegen in einer absoluten Extremsituation an unbekannte Pflanzen und es geht um das nackte Überleben, schlägt die US-Armee ein Vorgehen vor, das ich kurz beschreiben, aber nicht bewerten oder empfehlen kann:
  • Zunächst soll man nur einen Teil einer Pflanze pro Experiment probieren (um Wirkungen klar zuordnen zu können).
  • Dann soll man die Pflanze in ihre Basisbestandteile zerlegen, also Blätter, Wurzeln, Blüten muss.
  • Dann riecht man an allem. Ungewöhnlich starke oder säurehaltige Gerüche bedeuten “Hände weg!“.
  • Man sollt vor dem Experiment 8 Stunden nichts gegessen haben.
  • Währenddessen macht man einen ersten Test und nimmt einen Pflanzenteil für 15 Minuten in die Armbeuge oder an das Handgelenk an der Handinnenseite. Diese Zeit reicht um eine Hautreaktion festzustellen, die auch zum Abbruch führt.
  • Dann versucht man vorsichtig, ob die Lippe bei Berührung mit der Pflanze reagiert.
  • Ist dies nach 3 Minuten nicht der Fall, nimmt man das Pflanzenteil für 15 Minuten in den Nun ohne etwas davon zu schlucken.
  • Wenn dann keinerlei Reaktion erfolgt, kann man es runterschlucken.
  • Geschieht daraufhin während weiterer 8 Stunden nichts, kann man die Dosis leicht steigern und wieder 8 Stunden warten.
  • Erst danach, wenn immer noch keine Reaktion erfolgt ist, sagt man sich an den Verzehr. Tritt hingegen Unwohlsein auf, versucht man zu erbrechen und trinkt viel klares Wasser.
Auch, wenn es sich um klar identifzierte unschädliche Pflanzen handelt, sollte man deren Genuß langsam angehen lassen, da bei den meisten Menschen die Verdauung daran nicht gewöhnt ist. In einer Notsituation durch Verdauungsschwierigkeiten oder Durchfall geschwächt zu sein, ist das letzte, was man sich wünscht.
Und unabhängig von der Bekömmlichkeit gilt immer die Regel: Ohne Trinken isst man auch nichts! Denn die Verdauung entzieht dem Körper zusätzlich Wasser.


Abschließende Bemerkung

Das Wissen um Nahrung aus der Natur ist zugegebenermaßen heute Nischenwissen geworden und außer in sehr unwahrscheinlichen Notfällen auf den ersten Blick auch überflüssig. Auf den zweiten Blick kann es aber nicht nur Spaß machen, sich damit zu beschäftigen, sondern man kann auch interessantes Wissen für Tees, Smoothies oder Salatbestandteile kennenlernen, die gut schmecken und/oder gesund sind. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber ich werde im kommenden Jahr mehrere Kräuterwanderungen mitmachen und damit meine Kenntnisse erweitern und ich habe ein Herbarium angelegt.

Ich denke darüber hinaus, man sollte bei jeder Reise die Gelegenheit nutzen, einfach zu findende Nahrungsmittel aus der Natur kennenzulernen, die am Reiseort gefunden werden können. Naturgemäß ist das Wissen darüber in Gegenden wie dem abgelegenen Anatolien weiter verbreitet, als in Südengland. Aber in der Wildnis ist dies natürlich auch wichtiger.


Hinweis

Ich bin kein Arzt und gebe keinen medizinischen Rat. Hier habe ich beschrieben, wie ich mit pflanzlicher Notnahrung umgehe. Fragen Sie für eine sichere Einschätzung pflanzlicher Notnahrung für Ihre gesundheitliche Situation Ihren Arzt.


Anmerkungen

* Seit der Steinzeit werden solche Kochsteine verwendet. Steine können besonders gut Hitze speichern und wieder abgeben. Man macht sich diese Fähigkeit nicht nur bei Öfen mit Granit- oder Specksteinumhüllung zu Nutze, sondern z.B. auch, um beim improvisierten Übernachten draußen Wärme an oder untzer die Schlafstelle zu bringen.
Beim Kochen ist es wichtig, dass die Steine keinen Geschmack oder Substanzen an die Speisen abgeben, wie dies z.B. Kalk- oder Sandsteine tun würden oder splittern. Gut geeignet sind Granit, Kieselstein, Basalt oder auch luftgetrockneter Ton.

** Ich habe eine ganze Reihe von Kriegskochbüchern des Ersten und Zweiten Weltkrieges durchgesehen. Meist geht es um Einsparung von Energie und knappen Lebensmitteln (besonders Fleisch, Fett und in geringerem Maße auch Weizenmehl). Das Strecken bzw. der Ersatz durch Alternativen wie Kartoffelmehl oder Steckrüben bzw. eine Ernährungsumstellung (wenig Fleisch) stehen an zweiter Stelle. "Exotischere" Tipps wie Verwendung hier genannter Pflanzen gibt es erstaunlich wenige.