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Victorinox: Letztes Schweizer Taschenmesser

Es gibt einen Witz über Schweizer Taschenmesser, an dem etwas Wahres dran ist: "Frage: Welches ist das beste Schweizer Taschenmesser? Antwort: Das Leatherman Wave."
Tatsächlich verfügt ein Multitool über eine ganze Reihe mehr Funktionen und zudem sind mehr Werkzeuge feststellbar und oft auch robuster.
Wozu also ein Schweizer Taschenmesser bzw. Schweizerdeutsch "Sackmesser" (es wird im Hosensack, der Hosentasche getragen) mitführen?

Zunächst sind es rechtliche Aspekte, die ein Taschenmesser sinnvoller machen können. Multitools mit Einhandmesser werden in Deutschland im Zuge des hysterischen Umgangs mit Messern inzwischen rigoros aus dem Verkehr gezogen (Führverbot von einhändig zu öffnenden Klingen).
Natürlich gibt es auch Taschenmesser mit Einhandklinge (wie z.B. das Victorinox-Taschenmesser der Bundeswehr) und Multitools ohne Klinge. Aber bei der Mehrzahl beider Produkttypen sieht es eben anders aus.


Victorinox Farmer (oben) und Forester (unten)


Ein Taschenmesser ohne feststellbare Klinge ist in den meisten Ländern zu führen und ein solches mit feststellbarer (aber nicht einhändig zu öffnender) Klinge, geht ebenfalls häufiger durch, als ein Einhandmesser.

Man muss allerdings sagen, dass das Waffenrecht in Europa in Bezug auf Messer uneinheitlich ist und zwischen weitgehender Toleranz und Totalverbot schwankt. Wenn ich auf Jagdreise bin und meine Messer beim Flug im Waffenkoffer mitführe, hatte ich aber noch nie Probleme - selbst im als streng verschrieenen England nicht.

Und noch ein weiterer Grund spricht für ein Taschenmesser an Stelle eines anderen Klappmessers. Es ist zwar weniger tatsächlich ein rechtliches Thema, gehört aber in diesen Kontext: ein Schweizer Taschenmesser ist  meiner Erfahrung nach "sozial anerkannter", als andere Messerarten mit martialischerem Aussehen. Die vertraute rote Griffschale mit dem Schweizerkreuz und die relativ kleine Klinge aus rostfreiem Stahl ist meiner Beobachtung nach als "harmlos" gelernt.*


Farmer, Forester, Leatherman Wave, Silky Pocket Boy


Für mich stehen allerdings zunächst praktische Erwägungen im Vordergrund. Denn ich wollte über Silvester auf Tagespirsch auf Schwarzwild nach Anatolien. Wegen der Temperatur in den Bergen und der schlechten medizinischen Versorgung veränderte ich mein am Gürtel mitgeführtes Survival-Set. Ich wählte eine größere Tasche, die ich am Gürtel mitführen wollte, und nahm u.a. mehr Erste Hilfe-Material und mehr Ausrüstung zum Wärmeerhalt bzw. Feuermachen mit. Dazu brauchte ich u.a. eine Säge und eine Klinge. Beides sollte wegen der stundenlangen Märsche im Gebirge möglichst leicht, aber robust genug für einen Notfalleinsatz sein.


Die vier Werkzeuge mit ausgeklappter Säge


Vergleicht man vier Möglichkeiten für mein Survival-Set, ergibt sich folgendes Bild (alle ohne Holster/Tasche):
  • Messer Victorinox "Farmer": 85 Gramm Gewicht, 9 cm Länge
  • Messer Victorinox "Forester": 125 Gramm, 10,5 cm
  • Multitool Leatherman "Wave": 240 Gramm, 9,8 cm
  • Taschensäge Silky "Pocketboy": 185 Gramm, 16,8 cm

Zweifellos sägt die Zugsäge Pocketboy besser und schneller, als alle anderen kleinen Sägen. Aber es ist eben nur eine Säge. Hinzu käme ein Messer (Gewicht und Umfang).
Das Tool ist noch schwerer und bietet als deutlichste Unterscheidung eine Zange, die ich draußen nicht brauche.
Übrig bleiben die beiden Schweizer Messer mit ähnlichen Funktionen. Das größere hat eine feststellbare Klinge und eine etwas größere Säge. Diese wenigen Zentimeter mehr Säge machen erfahrungsgemäß einen erheblichen Unterschied für die Schnelligkeit und Leichtigkeit (die Säge rutscht nicht so leicht aus dem Sägegut). Für diese Vorteile nehme ich den Unterschied in Gewicht und Umfang in Kauf.

Das Farmer und das Forester weisen insgesamt beide genau die Funktionen auf, die ich auf Reisen brauche: ein Messer zum Brot, Wurst oder Käse schneiden, einen Kapselheber zum Öffnen von Bierflaschen, einen Dosenöffner, eine (Notfall)Holzsäge, eine scharfkantige Ale (zum Funkenerzeugen mit dem Feuerstahl im Notfall oder für eine feldmäßige Reparatur, d.h. zum Durchstehen von Leder oder Textilien), zwei Schraubenzieher (z.B. falls ich die Waffe neu einschiessen und deshalb den Ballistikturm aufschrauben muss).


Messer und Tool mit ausgeklappter Klinge


Ganz hundertprozentig Schweizerisch ist das "Sackmesser" gar nicht, denn als die Schweizer Armee Ende des 19. Jahrhunderts ein kleines klappbares Soldatenmesser ausgab, stammte dies noch aus deutscher Produktion in Solingen. Ähnliche Messer wurden dort zu Tausenden als "Touristenmesser" oder "Soldaten-" bzw. "Manövermesser" hergestellt und verkauft.

Das von der Schweizer Armee angeforderte Messer diente neben dem Öffnen von Dosen und dem Zerteilen von Nahrung mit seinem Schraubenzieher auch als Werkzeug für die Standardwaffe der Schweizer Soldaten.

Erst eine zweite große Bestellung des Soldatenmessers ging an die Firma des Schweizer Messerschmieds Karl Elsener aus Ibach im Kanton Schwyz, die heute Victorinox heißt. Weitere deutsche und Schweizer Hersteller (darunter die später bedeutende Firma Wenger) folgten.

Karl Elsener benannte seine Firma 1890 nach seiner verstorbenen Mutter in "Victoria" um und ließ das Firmenzeichen mit dem Schweizer Kreuz als Marke eintragen. 1921 wurde der Firmenname um die Bezeichnung für einen rostfreien Edelstahl ("Inox") ergänzt und in "Victorinox" umbenannt.

Die Schweizer Armee hat bis heute fünf verschiedene Modelle im Einsatz. Das letzte wurde 2008 eingeführt. Da in den letzten 50 Jahren nur noch Wenger und Victorinox Armeelieferanten waren, werden diese als die "Originalhersteller" betrachtet und haben mit ihrer Markenpflege und bewussten "Swissness" (z.B. durch das Schweizerkreuz) auch nachhaltig dazu beigetragen. So ist beispielsweise der Begriff "Schweizer Sport- und Offiziersmesser" seit 1897 markenrechtlich geschützt, obwohl das "Sackmesser" nicht nur Offizieren vorbehalten war.

Heute gibt es mit Victorinox nur noch eine bedeutende Firma, die Schweizer Taschenmesser herstellt. Denn 2005 wurde der Hersteller Wenger übernommen. Und seit 2013 gibt es auch keine Messer mehr unter diesem Markennamen.

Ich persönlich bedaure es, dass immer mehr unserer europäischen Messerkultur verschwindet und chinesischen Produkten Platz macht. Insofern finde ich es nicht nur schön, dass Schweizer Taschenmesser nach wie vor in großer Stückzahl von der Bundeswehr beschafft werden (seit 2008 als Einhandmesser, zuvor seit 1976 mit nicht feststellbarer, nicht einhändig zu öffnender Klinge). Sondern ich freue mich trotz meiner Begeisterung für Multitools wie dem Leatherman Wave oder dem größeren Surge sowie dem Gerber Centerdrive daran, selbst mehrere Victorinox-Messer zu besitzen.


*Ist es nicht z.B. mit Selbstladebüchsen ähnlich? Meine SLB2000+ mit Holzschaft von Heckler & Koch geht jagdlich bei Mitjägern gerade noch durch, obwohl die Waffe technisch dem Gewehr G3 sehr ähnlich ist. Ein "black rifle" wie das AR 15 hingegen löst viel mehr Befremden aus. Beides sind Selbstladebüchsen mit militärischem Hintergrund, aber keine Militärwaffen.